Jahrelang habe ich das Vaterunser mitgesprochen oder auch für mich still aufgesagt, und immer gab es Zeilen, die mir einfach nicht über die Lippen kamen. Alles war irgendwie schwer und bedeutungsschwanger. Da war anscheinend ein alter heiliger Mann, dem man seine Schuld bekennen sollte und vielleicht nahm er sie einem ab in einem undurchschaubaren Verfahren. Und wir müssen auch verzeihen. Klar. Dass man für das tägliche Brot bittet, ok, das war nachvollziehbar, aber der Rest? Dein Reich komme. Was bedeutete das? Und wann sollte das sein? Dein Wille geschehe. Hängt das denn von meiner Bitte ab? Und diese pathetische Schlussformel. Musste sie sein? Ich überlegte lange jede einzelne Zeile und versuchte Entsprechungen in anderen Religionen zu finden. Dein Wille geschehe. War das nicht das, was auch im Advaita gesagt wird, etwa von Ramesh Balsekar? Aber auch das Suchen nach Parallelen in anderen Traditionen führte letztlich zu keinem größeren Verständnis. Schließlich konnte ich bei einem Besuch in einer Moschee lernen, wie Muslime beten und war erstaunt, dass ihre Gebete nicht unähnlich dem Vaterunser waren. Sie vergegenwärtigten sich allerdings die Anwesenheit Gottes viel intensiver, als ich dies aus dem Christentum kannte. Und wenn sie fünfmal am Tag beteten, dann machten sie auch fünfmal am Tag eine Gotteserfahrung. Da fiel mir ein, dass die buddhistische Praxis im Kern ebenfalls Vergegenwärtigung darstellte, und dass ich im Christentum nie Vergleichbares erlebt hatte. Es gab Verkündigung, es gab Verehrung, aber die persönliche Vergegenwärtigung – sie schien einfach zu fehlen. Ich setzte mich an die Bibel und las das Vaterunser bei Matthäus und Lukas. Und ich fiel aus allen Wolken, als ich bei Matthäus las, dass das Vaterunser gar nicht öffentlich, sondern 'im stillen Kämmerlein' gesprochen werden sollte! Da war sie ja, die von mir gesuchte Praxis der Vergegenwärtigung. Ich begann das Vaterunser nun Zeile für Zeile durchzugehen und stellte mir nach jedem Satz vor, dass das Angesprochene sich tatsächlich auch unmittelbar erfülle. Und so erschloss sich für mich auf einen Schlag eine völlig neue Welt. Fast schon wie selbstverständlich vernahm ich, dass „Amen“ soviel wie. „Es möge geschehen.“ bedeutet. In der vorliegenden Fassung findet man dafür „Es sei.“ Dies führte mich schließlich zu der Vermutung, dass auch das Christentum letztlich eine Vergegenwärtigungspraxis besitze, so wie der Buddhismus und der Islam, diese aber mittlerweile untergegangen sei. Obwohl ich selten mit der Kirche in Kontakt bin, fühle ich mich doch dem Christentum verbunden. Das Vaterunser als spirituelle Praxis hat mir einen neuen Weg gezeigt, wie das, was die „frohe Botschaft“ genannt wird, unmittelbar und tagtäglich erfahren werden kann. Und zwar in jedem Vaterunser oder einem anderen Dialog mit Gott. Daher habe ich das Wichtigste auf ein paar Seiten zusammengestellt und gebe es weiter, damit die, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, erfahren, wie sie das, was sie die ganze Zeit gesucht haben, auch finden können. Es handelt sich um eine Praxis, die nur 5-6 Minuten dauert, und die überall praktiziert werden kann. Sie führt unmittelbar in einen meditationsähnlichen Zustand und zu einer Verbindung mit dem Selbst, das wir alle zutiefst sind. Wenn mehr Zeit für diese Praxis zur Verfügung steht, kann sie auch zu einem Prozess der inneren Reinigung führen, insbesondere mit der Zeile des Schuldbekenntnisses und der Vergebung. 2. erw. Auflage
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