Was für Gefühle bekommt ein 47-jähriger, ganz gut im Leben stehender Mann, wenn er den Schlafanzug aus seinen Kindertagen aus dem Schrank zieht – oder die Wollunterhose, die immer so gekratzt hat? Wenn er die Cowboy- und Indianerfiguren entdeckt, mit denen er früher gespielt hat. Oder den Stock, mit dem er und seine Geschwister geschlagen wurden? Was war das für eine Zeit, die Kindheit und die Jugend? Wie war das Verhältnis zu den Eltern? Was waren das überhaupt für Menschen? Und was haben Sie mit ihm gemacht? Es sind nicht nur einige Container Müll, die Lorenz Berger und sein Bruder bewältigen müssen, als sie nach dem Tod der Mutter das Haus entrümpeln, in dem sie aufgewachsen sind. Auch mit solchen Fragen sieht Berger sich konfrontiert. So artet die Räumung des maroden Hauses, in dem die Mutter die letzten fünfzehn Jahre nach dem Tod des Vaters allein lebte, in ein gutes Stück Arbeit aus. Berger geht Stück für Stück in seine Jugend und Kindheit zurück. Das dauert Wochen und Monate, denn die Mutter hat nie etwas weggeworfen und fast alle Dinge von früher aufgehoben. Wie ein Detektiv spürt Berger den Spuren im alten Haus nach – und macht dabei komische und aufwühlende Entdeckungen. Ob vertraut, verhasst oder verschroben: Schlagartig rufen die Dinge Erinnerungen einer Zeit wach, die zum einen von kreativer Lebendigkeit, zum großen Teil aber von Einschränkung, Unterdrückung und Ängstlichkeit geprägt war. Bergers anfangs sachlich-gelassene Haltung gerät ins Wanken. Der Vater, manisch-depressiv schon in Bergers Kinderjahren, fand kaum einmal die Mitte zwischen beiden Extremen und blieb seinen Kindern fremd. Das Intellektuelle, Analytische und Organisatorische waren seine Stärken, seine Gefühle jedoch behielt er für sich. Der Krebs beendete sein Leben, in dem es nur wenige glückliche Jahre gab, wie Berger aus handschriftlichen Aufzeichnungen erfährt. Die Mutter, die mit Drohungen und Strafen die Erziehung ihrer Kinder dominierte, versuchte hartnäckig, nach außen hin den Eindruck einer harmonischen Familie entstehen zu lassen. Hinter dieser Fassade aber zeigte sich eine große Unsicherheit. So war das Zuhause für Berger und seine Geschwister zwar eine Heimat, aber auch ein Ort voller Spannungen. Berger wird einiges klar, als er im Schreibtisch des Vaters ausgeschnittene Kontaktanzeigen findet – und später auch bei den Notizen der Mutter auf Partnersuche-Unterlagen stößt. Diese Notizen, von denen die Brüder haufenweise finden, geben Aufschluss über eine Frau, die gern mehr aus sich und ihrem Leben gemacht hätte. Auf unzähligen Zetteln und kleinen Schmierpapieren hielt sie Wissenswertes fest und die Aktienkurse, sammelte Witze und Lebensweisheiten. Die Fundstücke und Erinnerungen lösen Trauer und Wut, aber auch Mitgefühl in Berger aus. Nach und nach bekommt er ein Verständnis für seine Eltern: Sie hatten eine noch schwerere Vergangenheit – und nicht die Möglichkeit, mit ihr aufzuräumen. Und Berger hat mehr Eigenschaften von ihnen, als ihm lieb ist. Er hat jetzt das damalige Alter seiner Eltern erreicht und noch weniger Jahre zu leben, als er schon hinter sich hat. Beim Kaffeetrinken mit den neuen Besitzern des mittlerweile renovierten Elternhauses resümiert er: Seine Vergangenheit war eher beklemmend als bunt. Seine Zukunft aber hat er selbst in der Hand. Und so, wie wieder eine neue Familie in das alte Haus eingezogen ist, will er in der Zeit, die ihm noch bleibt, das tun, was seine Eltern nicht konnten: leben.
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